CCS fordert der Community forschungsethische Reflexion ab

 


 

   Wiebke Möhring, Technische Universität Dortmund
   (Foto: Felix Schmale)

 

 

 

   Daniela Schlütz, Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF 

für das FeKoM-Team: Eva-Maria Csonka, Elena Link und Arne Freya Zillich

Ohne Zweifel ist Computational Communication Science (CCS) gekommen, um zu bleiben. Wir werden in den kommenden Jahren erleben, wie sich unser Fach im Kontext der Datenfundierung verändert. Zwangsläufig stellen sich angesichts technischer Möglichkeiten und großer Datenmengen neue Fragen und ergeben sich neue Forschungs- und Samplingmöglich­keiten. Die im Kern inter­disziplinär ausgerichtete ­Kommunikationswissenschaft geht im ­Rahmen des computational turn einen engen Bund mit der Informatik ein, und die Begeisterung für sich ­daraus ergebende ­Forschungsfragen und -designs schlägt sich in entsprechenden Tools, transdiszipli­nären Projekten und neuen ­Strukturen nieder.

Die in diesem Kontext entstehenden ­Forschungsfelder und -methoden lassen bekannte forschungsethische Debatten wiederauf­leben, werfen aber auch neue Fragen auf, denn technisch ist häufig möglich, was datenschutzrechtlich noch nicht geregelt ist. Und auch wo es keine juristischen Bedenken gibt oder wo AGBs die Verwendung proprietärer Daten regeln, ergeben sich forschungsethische Herausforderungen (vgl. Beauchamp & ­Childress, 2013): In Bezug auf die Selbstbestimmung stellen sich z. B. Privatheitsfragen, denn insbesondere bei Social-Media-Inhalten ist häufig unklar, was öffentliche Daten sind und was nicht. Werden keine Informed-Consent-­Prozeduren ein­gesetzt, merken User*innen u. U. nicht, dass sie zu Forschungssubjekten werden. Hinzu kommt, dass der Fokus auf digital trace data und Kommunikationsartefakte leicht den Menschen aus dem Blick verlieren lässt. Das Prinzip der Schadensvermeidung wird v. a. dann tangiert, wenn es um sensible Informationen geht, die für sich oder durch Verknüpfungen von Daten­sätzen entanonymisiert und damit rückverfolgbar ­werden. Gerechtigkeit schließlich steht dann auf dem Prüfstand, wenn durch Auswahlprozeduren bestimmte, häufig ohnehin schon marginalisierte Gruppen von Forschung ausgeschlossen werden, z. B. weil sie digital unsichtbar sind. Ähnliches gilt für die Nutzung von Algorithmen, in die spezifische strukturelle Ungerechtigkeiten eingeschrieben sind und deren Einsatz diese wiederum verstärkt.

Im BMBF-Projekt „FeKoM – Forschungsethik in der Kommunikations- und Medienwissenschaft“ haben uns Kolleg*innen von entsprechenden Fragen berichtet, die sich ihnen in der Forschungspraxis stellen: Ist die Zugänglichkeit von Daten mit Informed Consent gleichzusetzen? Kann ich tatsächlich alle Daten nutzen, die mir als Datenspende zur Verfügung gestellt werden? Kann ich diese gemäß den Anforderungen von Open Science öffentlich machen? Wie kann ich sicherstellen, dass sensible Daten hinreichend anonymisiert sind? Wenn User*innen ihre Daten nachträglich löschen – wie kann das in einem bestehenden Datensatz berücksichtigt werden? Sind Daten von Personen des öffentlichen Lebens anders zu behandeln als von privaten Personen, die sich in einem (halb-)öffentlichen Raum äußern?

Bei der Beantwortung dieser Fragen können wir auf allgemeine rechtliche Rahmenbedingungen und auf Standesregeln des Wissenschafts­systems bzw. der jeweiligen Fachgesellschaft oder Institution zurückgreifen. Auch wenn auf individueller Ebene rechtliche Vorgaben und institutionelle ethische Richtlinien von Forschenden routinemäßig angewandt werden, stellt sich die Frage, welche Standards wir im Fach etablieren wollen, um möglichen Konflikten zwischen methodischen und forschungsethischen Fragen zu begegnen. Oder spezifischer: Wie können solche Standards im Anwendungsfall der CCS definiert werden? Ein erster Schritt ist die Sensibilisierung für Grauzonen und die Aktivierung der eigenen Verantwortung, denn kein Kodex und keine Richtlinie kann alle konkreten forschungsethischen Probleme lösen. Das gilt ganz besonders im sich ständig weiter ­entwickelnden Bereich der CCS. Vielmehr sind im jeweiligen Anwendungsfall und damit problem­orientiert und fallbezogen Fragen zu stellen und angemessene Lösungen zu finden. Grundlegend für solche prozessualen Ansätze sind handlungsleitende Prinzipien, die fall­spezifisch ausgelegt werden, wie der o. g. Dreiklang von Selbstbestimmung, Schadens­vermeidung und Gerechtigkeit. Ganz grundlegend sollten wir, nicht nur, aber insbesondere beim Einsatz von CCS, beherzigen, was boyd und Crawford (2012, S. 671) in ihrer Big-Data-Kritik schon früh erkannt haben: „Just because it is accessible does not make it ethical“.

Literatur
Beauchamp, Tom L., & Childress, James F. (2013). Principles of biomedical ethics (7. Aufl.). Oxford University Press.
Boyd, Danah, & Crawford, Kate (2012). Critical questions for big data. Information, Communication & Society, 15(5), 662-679.
Auf der Webseite https://www.forschungsethik-kmw.de sind bestehende Kodizes und eine Literatursammlung zu finden.