„Pass auf, wenn du nachts alleine ­heimgehst…“

 

 

 

Interview mit Elizabeth Prommer, Rektorin der Universität Rostock

Wie definieren Sie Wissenschaftsfreiheit?
Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit umfasst für mich, dass ich über meine Forschungsthemen entscheiden und sie selbstbestimmt methodisch bearbeiten kann. Zudem bietet Wissenschaftsfreiheit die Grundlage für einen offenen wissenschaftlichen Diskurs. Gleichzeitig gebietet Wissenschaftsfreiheit jedoch auch die Pflicht, mich mit meiner Forschung innerhalb des Grundgesetzes und der gültigen Gesetze zu bewegen, die Rechte anderer Menschen nicht zu verletzen und mich an die Ethik-Kodizes der jeweiligen Fachgesellschaft zu halten.

Reicht das? Die Universität Hamburg hat einen Kodex für Wissenschaftsfreiheit aufgestellt (siehe gesonderter Beitrag). Halten Sie es als Rektorin der Universität Rostock ebenfalls für überlegenswert, sich als Institution weiterführende eigene Richtlinien zu geben als Kompass für Forschende an der eigenen Hochschule?
Es ist richtig, dass wir an Universitäten einen institutionellen Rahmen geben müssen. Wir verfügen über die dafür notwendigen Instrumente, um Wissenschaftsfreiheit zu gewährleisten und abzusichern. Wissenschaftsfreiheit ist ein hohes Gut in Deutschland und im Grundgesetz verankert. Intern ist in Deutschland die Wissenschaftsfreiheit an der Universität nicht gefährdet, aber von extern. Dennoch sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht davor gefeit, nach der Veröffentlichung von Forschungs- oder Studienergebnissen in einen Shitstorm zu geraten. Ich kenne es beispielsweise von meinen Genderthemen. Sobald ich mit dieser Thematik in den Medien in Erscheinung trete, erhalte ich Hassmails, in denen mir oftmals auch erklärt wird, was ich nicht forschen sollte. Ähnlich ergeht es mir bekannten Kolleg:innen, die in der Medizin forschen, sich mit Fragen des Klimawandels oder dem Thema der Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Es ist dringend notwendig, dass wir uns damit befassen, wie wir Kolleg:innen vor diesen externen Angriffen schützen, auch damit sie ihre Forschung weiter betreiben können.

Einiges wird getan. Der Bundesverband Hochschulkommunikation will eine bundesweite Anlaufstelle „SciComm Support“ (siehe gesonderter Beitrag) für Wissenschaftler:innen aufbauen, die im Zusammenhang mit ihrer Wissenschaftskommunikation Anfeindungen erleben. Inwiefern hat auch die Universität als Institution hier eine Art Fürsorgepflicht?
In Deutschland befinden wir uns in einer etwas paradoxen Situation: Einerseits wird von der ­Politik gefordert und ebenfalls von uns erwartet, dass wir Wissenschaftskommunikation betreiben. Das schließt auch uns als Kommunikations­wissenschaftler:innen ein. Hingegen wissen wir andererseits ganz genau, dass es eben nicht so leicht ist, wie es sich das Bundeswissenschaftsministerium vorstellt: man müsse nur richtig kommunizieren, dann komme die Information beim Publikum richtig an und alle verhalten sich dementsprechend. Doch wir wissen ebenso, dass Kommunikation nicht linear nach einem simplen Reiz-Reaktions-Modell erfolgt. Denn Menschen leben in ihren Lebenswelten, die ihre Kommunikation entscheidend prägen. Zwar wird Wissenschaftskommunikation gefordert und gefördert, aber es gibt keine Schutzmechanismen für den Umgang mit den Nebeneffekten. An dieser Stelle haben wir eine Fürsorgepflicht für unsere Kolleg:innen und müssen uns an den Universitäten wirklich überlegen, wie wir dieser nachkommen.

Würden Sie sich wünschen, dass das Thema Anfeindungen von Wissenschaftler:innen und von Wissenschaft generell öffentlich noch stärker debattiert würde?
Ich wünsche mir insbesondere, dass sich der Fokus, der momentan auf dem Thema Wissenschaftsfreiheit liegt, ändert. Denn dieser ist meiner Meinung nach falsch. So wird beispielsweise befürchtet, man werde schlecht benotet oder dürfe einen Vortrag nicht halten, wenn man nicht richtig gendere oder man sei nicht woke genug. Das betrifft aber bisher nur Einzelfälle. In meinem Umfeld und an meiner Universität ist mir das nicht begegnet. Sehr viel stärker ist es zutreffend, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an Themen arbeiten, in denen es zum Beispiel um Ungleichheit, Migration oder Rassismus, Corona und Impfen oder um die Genderthematik geht, angefeindet werden. Doch genau diese Zusammenhänge sind eben bisher nicht so sehr im Fokus bei der Sorge um Wissenschaftsfreiheit. Aus meiner Sicht sollte das jedoch unbedingt einen viel stärkeren Raum einnehmen. Denn wenn sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunehmend mit Anfeindungen und Drohungen auseinandersetzen müssen, rückt immer mehr die Überlegung in den Vordergrund, auf eine Veröffentlichung der Forschungsergebnisse lieber zu verzichten, um E-Mails wie „Pass auf, wenn du nachts alleine heimgehst, wir kennen deine Adresse.“ zu entgehen. 

Definitiv. Haben Sie den Eindruck, dass man da gegenwärtig nur die Spitze des Eisbergs sieht? Oder dass die Kolleg:innen es wirklich sagen, wenn ihnen Derartiges widerfährt? 
Ich denke, wir erfahren nur von den wirklich schlimmen Fällen. Eine Einschätzung ist mir daher nur schwer möglich. Ich befürchte, die meisten Forscherinnen und Forscher sind inzwischen ein bisschen abgebrüht. Das ging mir ähnlich. Als ich meine ersten Hassmails bekam, war ich ziemlich außer Fassung. Inzwischen lese ich bei solchen Mails nur noch die erste Zeile und lösche sie dann einfach sofort. Bestimmte Diskussionen in den Social Media oder Diskussionen unter Artikeln und Interviews, wenn sie in einem unmoderierten Raum stattfinden, ignoriere ich komplett. 

Nochmals zurück zu der Facette, dass einige Menschen Anderssein und auch kontroverse Perspektiven ausgrenzen möchten, die sie politisch als nicht korrekt einstufen. Müsste man da nicht mehr dagegenhalten?
Dass junge Menschen mitunter anders argumentieren, als wir es erwarten, war schon immer so. Seit Platon wird immer über die Jungen geschimpft, die die Alten nicht verstehen. Doch wir sollten uns alle mehr in Gelassenheit üben und akzeptieren, dass die Jüngeren uns widersprechen dürfen und nicht in allem übereinstimmen, was gegebenenfalls eine alte weiße Professorin ihnen erzählt. Grundprinzipien hingegen – wie der Ethikkodex, das Grundgesetz oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – gelten freilich für alle. Doch allem, was im Zusammenhang von Cancel Culture geschieht, wird momentan eine sehr viel höhere Priorität zugesprochen als dem Thema rund um Hate Speech, die sich häufig vor allem gegen Frauen richtet, und aus Angst zunehmend erste Stimmen verstummen lässt. 

Forschung und letztlich Wissensproduktion, ob zu Pandemie, Erderwärmung oder anderen Themen, kann macht- oder herrschaftsorientiert sein. Es gibt dominante Auffassungen, und sowohl bei Forschungsprojekten und der Generierung von Forschungsfragen als auch bei öffentlichen Äußerungen ist es schwierig, sich in einer Weise zu äußern, die nicht diesem ­Wissens-Mainstream entspricht. Ist das nicht auch deshalb ein Problem, weil dabei leicht auch relevante Fragen unter den Tisch fallen?
Sowohl dieser Mainstream als auch die Frage nach dem Woher und dem Wohin des Fördergelderflusses ist ein Ausdruck von Deutungsmacht, der auf eine gewisse Art die Freiheit der Forschung einschränkt. In diesem Diskurs geht es um prekäre Karrieren und generell um die Frage nach dem Gelingen einer stetigen Karriere in der Wissenschaft. Soll oder kann ich überhaupt abseits des Mainstreams forschen, auf die Gefahr hin, dass ich dann wahrscheinlich länger brauche, bis ich meine Forschungsergebnisse veröffentlichen kann und ich bei Drittmittelförderungen berücksichtigt werde? Oder sollte ich besser im Mainstream forschen, im zentralen Diskurs bleiben und meine Forschungslücke finden, um meine Karriere zu machen? Dieses Thema begleitet die Universitäten schon seit nunmehr 20, 30 Jahren, auch in unserem Fach ist es präsent. Es zeigt sich bei den Reviewverfahren zu Tagungen und Journals, doch ebenfalls in der Zitationskultur. Haben die abseitigen, wirklich coolen, vielleicht auch gewagten Ideen überhaupt eine Chance, bemerkt zu werden, werden ihre Ideengeber auf Tagungen eingeladen? Hier gilt es, auf Systemebene diese Schieflage wieder auszugleichen. Ein wichtiger Schritt, den wir unternehmen können und müssen, ist es, Universitäten mit einer ausreichenden Grundfinanzierung auszustatten, um auf diese Weise ein kreatives Forschen jenseits des Mainstream-Wettbewerbs zu ermöglichen.

Was machen Sie da gerade konkret im eigenen Haus, in Rostock? 
Wir wollen z.B. über Vertretungen und Stipendien Professor:innen neben ihren Pflichtaufgaben mehr Freiräume für wissenschaftliches Arbeiten, das Verfassen von Forschungsanträgen und das Schreiben von Publikationen ermöglichen.  

Der aktuelle Academic Freedom Index beschreibt, dass gegenwärtig die Hälfte der Weltbevölkerung in der Wissenschaftsfreiheit Rückschritte erlebt. Deutschland hingegen liegt weit vorne, belegte im vergangenen Jahr sogar Platz Eins, aber deutsche Hochschulen haben natürlich auch Kontakte zu vielen ­Forschenden aus Ländern, in denen die Lage sehr angespannt ist oder sich deutlich verschlechtert hat. Russland wäre ein Beispiel, auch weitere autokratische Staaten wie China. Wie schätzen Sie die sich daraus ergebenden Belastungen für Forschungskooperationen und die Arbeit an bestimmten Themen ein? 
Selbstverständlich beeinflusst das internationale Forschungskooperationen. Diejenigen, die z.B. mit russischen Kolleg:innen zusammengearbeitet haben, müssen neue Wege finden. Das beginnt schon bei der Frage, ob eine wissenschaftliche Zusammenarbeit fortgeführt werden kann, was nicht immer einfach herauszufinden ist. So manche russischen Wissenschaftler:innen unterstützen den Krieg nicht, können das aber freilich in keiner E-Mail schreiben. Zudem werden ihnen Reisen verwehrt, freies Sprechen auf Konferenzen bisweilen untersagt. Darüber hinaus sollten wir solchen Überlegungen nicht nur bezogen auf autokratische Staaten anstellen. Auch in den USA greift die Politik mitunter stark in die Universitäten ein. Wenn ein Gouverneur erklärt, dass die Critical Race Theorie nicht mehr unterrichtet werden darf, so ist das eine Einschränkung, die auf gemeinsame Forschungskooperationen ­Einwirkungen hat. 

Die European University Alliance hat kürzlich einen Bericht zur Lage der Autonomie von Hochschulen in Europa veröffentlicht. Deutsche Hochschulen schneiden zwar hervorragend ab, aber der Befund insgesamt lautet, dass es viel zu viele Einschränkungen gebe, die die Hochschulen daran hindern, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Ihre Einschätzung als ­Rektorin der Universität Rostock bitte: Trifft das zu? ­Wünschen Sie sich mehr Autonomie?
Ja, durchaus. Für die Wissenschaftsfreiheit und bei der Wahl der Forschungsthemen sehe ich keine Gefahr, aber bei der Mittelverteilung bedürfte es mehr Autonomie. Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern uns vorgegebene Stellenpläne. Das bedeutet, steht eine Professur nicht im Stellenplan, so können wir auch keine neue schaffen, was uns auch bei der Gestaltung unserer Forschung einschränkt. Hinzu kommen Förderprogramme von Bundesländern oder vom Bund, die politisch oder gesellschaftlich gewollte Themen ansprechen, klimafreundliche Energie zum Beispiel. Das vermag Vieles anzustoßen, aber zugleich einzuschränken, da zu anderen relevanten Themen, die in kein Programm ­passen, weniger geforscht wird. Es wäre daher gut, wenn Hochschulen freier wären in der Entscheidung, wofür sie die Mittel ausgeben wollen.

Interview: Marlis Prinzing