Die Kommunikationswissenschaft am Wendepunkt? Wie KI die akademische Welt auf den Kopf stellt


Gerhard Vowe, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf & Olaf Jandura, Hochschule Düsseldorf
Gegenwärtig erleben wir, wie KI die akademische Welt ruckartig auf den Kopf stellt. Seit ChatGPT öffentlich zugänglich ist, wird weit über Fachkreise hinaus deutlich, welche Potentiale in Generativer KI liegen. In enormem Tempo haben sich spezielle Anwendungen auf Basis von Large Language Models auch in der akademischen Welt durchgesetzt. Noch betrifft das vor allem die Lehre: Fast alle Studierenden lassen sich mittlerweile durch ChatGPT oder Gemini unterstützen oder delegieren Studienleistungen gleich ganz an Apps (Marczuk et al. 2025). Damit werden basale Regeln für Leistungserbringung und Prüfung unterlaufen. Darüber hinaus wird mehr und mehr sichtbar, wie Generative KI weitere Facetten wissenschaftlicher Kommunikation durchdringt, etwa die Beantragung von Forschungsmitteln oder die Begutachtung von Publikationen. Diese Veränderungen bringen vertrackte Probleme mit sich. Stichworte sind: Intransparenz der Modelle, Verzerrungen in Trainingsdaten, Diskriminierungen, Verletzungen von Urheber- und Datenschutz, Inkonsistenz der Ergebnisse, Ausspähung von Daten, Verbreitung unangemessener und ungenauer Behauptungen, Optimierung von Fälschungen und Täuschungen bei Ergebnissen, Halluzinationen (z.B. Bail 2024; Bisbee et al. 2024).
Und das ist erst der Anfang: Denn gut begründete Prognosen (z.B. Kokotajlo et al. 2025) gehen davon aus, dass in den nächsten Jahren weitere Schritte in Richtung einer Künstlichen Generellen Intelligenz zu erwarten sind, also einer KI, die dem Menschen kognitiv ebenbürtig wäre. Demzufolge würde KI mehr und mehr über allgemeine Denkfähigkeiten verfügen, mit denen sie auch völlig neuartige Aufgaben erfüllen könnte. Sie könnte dann jedes Problem in dessen jeweiligem Kontext verstehen und lösen. Engpässe bei Hardware, Software und Trainingsdaten würden Schritt für Schritt dadurch überwunden, dass sich Forschung und Entwicklung zu KI selbst automatisieren. Aus Assistenten für spezielle Aufgaben würden Agenten mit generellen Fähigkeiten. KI würde sich damit nicht mehr auf Routinetätigkeiten in der Forschung beschränken, sondern auch kreative und innovative Leistungen erbringen. Dies hätte enorme Folgen für die Wissenschaft, denn dann könnten bislang menschliche Leistungen in Forschung und Entwicklung, in Ausbildung und Wissenschaftsorganisation durch Maschinen erbracht werden – Ende offen. Forschende würden dadurch die gleichen Kränkungen erfahren, wie sie Setzern und Übersetzern, Programmiererinnen und Journalistinnen bereits zugemutet wurden. Und sie würden mit völlig neuartigen Chancen und Risiken umzugehen lernen und dabei eine andere akademische Welt formen.
Die eigentliche Herausforderung für die Kommunikationswissenschaft besteht also nicht darin, dass KI immer mehr zum zentralen Objekt von Ausbildung und Forschung wird. Vielmehr verändert KI mehr und mehr Ausbildung und Forschung selbst. Auf diese Umwälzung ist die Fachgemeinschaft aktuell nicht vorbereitet. Vielfach werden die Augen verschlossen. Dies mag für den Moment entlasten, verschärft aber die Probleme. Erforderlich ist vielmehr, dass wir uns darüber verständigen, wie wir angesichts der enormen Chancen und Risiken agieren und reagieren sollten. Die Zeit dafür ist knapp, denn Veränderungen werden in hohem Tempo aufeinander folgen. Im Vergleich dazu ist die Disruption durch internetbasierte Medien in den letzten 30 Jahren gemächlich verlaufen. Im Rückblick hatten wir reichlich Zeit, uns auf Web 1.0 und Web 2.0 einzustellen. Der „AI turn“ (Dodds et al. 2025) lässt uns weniger Zeit.
Den überfälligen Anstoß zu einer Verständigung soll diese Debatte in aviso bilden. Sie folgt der Leitfrage: Wie wird KI die Kommunikationswissenschaft im Hinblick auf Ausbildung, Forschung, Third Mission und Wissenschaftsorganisation in den nächsten drei Jahren verändern? Und wie könnten und sollten die Veränderungen gestaltet werden?
Die Debatte führen sechs Kolleginnen und Kollegen. Fünf Beiträge fokussieren einzelne kommunikationswissenschaftliche Tätigkeitsbereiche, davon zwei die Forschung und je einer die Ausbildung, die Third Mission und die Wissenschaftsorganisation. Die Debattenredaktion hat die Beitragenden gebeten, jeweils drei Vermutungen zu prüfen, wie sich einzelne Aktivitäten alsbald durch KI verändern werden, etwa wie sich die Wahl von Studienfach und -ort durch KI-Apps verändert. Dies kann jeweils nur ein winziger Ausschnitt sein; aber nur die Beschränkung erlaubt, die Veränderungen möglichst präzise abzuschätzen. Dabei werden zwei Stufen von KI-Potentialen unterschieden: Die erste, derzeit deutlich erkennbare Stufe bilden KI-Assistenten, die Menschen bei ihren wissenschaftlichen Leistungen unterstützen, etwa bei Hypothesenbildung oder Datenerhebung. Die zweite, erst vage erkennbare Stufe bilden KI-Agenten, die wissenschaftliche Leistungen eigenständig erbringen, kontrolliert durch menschliche oder maschinelle Expertise. Die Vermutungen über Veränderungen müssen grob bleiben. Denn bei der Einschätzung, wie ein KI-Potential 2026 oder später die jeweilige Aktivität prägt, ist vieles zu berücksichtigen. So wäre für die breite Akzeptanz eines KI-Assistenten in der Begutachtung von Forschungsanträgen erforderlich, dass dies datenschutzkonform geschehen kann. Diese vielen Voraussetzungen können bei den Vermutungen nicht explizit berücksichtigt werden.
Zudem hat die Redaktion die Beitragenden gebeten, die Relevanz und die Valenz dieser Veränderungen einzuschätzen und den jeweiligen Handlungsbedarf zu skizzieren. Abgerundet wird dies durch einen ethischen Kompass von Marlis Prinzing, der Orientierung für das Handeln geben soll.
Insgesamt zeigt sich bei den Antworten: Die Beiträge stimmen darin überein, dass KI-Assistenten die akademische Welt bereits tief durchdrungen haben. Sie divergieren allerdings darin, wann damit zu rechnen ist, dass KI-Agenten Aufgaben eigenständig erledigen. Der Klärungs- und Handlungsbedarf wird generell als groß eingeschätzt.
Was ist unmittelbar zu tun und zu lassen? Die Debatte in aviso kann nur ein Anstoß für eine gründliche Klärung und umsichtige Gestaltung sein. Jedes Institut, jede Fachgruppe, jeder Forschungsverbund ist gut beraten, sich eingehend und umgehend Gedanken zu machen, wie mit den Herausforderungen durch KI umzugehen ist, und die Gestaltungsmöglichkeiten auszuloten. Wenn nicht jetzt, wann dann? Und wer, wenn nicht wir?
Referenzen:
Christopher A. Bail: Can Generative AI improve social science? Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 121 (21), 2024, e2314021121. DOI: 10.1073/ pnas.2314021121
James Bisbee, Joshua D. Clinton, Cassy Dorff, Brenton Kenkel, Jennifer M. Larson: Synthetic Replacements for Human Survey Data? The Perils of Large Language Models. Political Analysis 32 (4), 2024, S. 401–416. DOI:10.1017/pan.2024.5
Kate Crawford: Atlas der KI. Die materielle Wahrheit hinter den neuen Datenimperien. C.H.Beck 2024
Tomás Dodds; Rodrigo Zamith; Seth C Lewis: The AI turn in journalism: Disruption, adaptation, and democratic futures. Journalism 2025-05-15. DOI: 10.1177/14648849251343518
Daniel Kokotajlo, Scott Alexander, Thomas Larsen, Eli Lifland, Romeo Dean: AI 2027. AI Futures Project. 03.04.25. https://ai-2027. com/
Ray Kurzweil: The Singularity is Nearer: When We Merge With A.I. Viking 2024
Anna Marczuk, Frank Multrus, Thomas Hinz, Susanne Strauß: Künstliche Intelligenz (KI) im Studienalltag: Einschätzungen von Studierenden zum Einsatz von KI an deutschen Hochschulen. DZHW, 2025. https://doi.org/10.34878/2025.02.dzhw_brief

