„Lügenpresse“ als „Medienkritik“ – Eine Einordnung

Jens Seiffert-Brockmann (Wirtschafts-Universität Wien)

 

 

 

Als sich der Komet Hale-Bopp im Frühjahr 1997 der Sonne näherte, begaben sich die Anhänger der Sekte Heaven‘s Gate in ein Fachgeschäft, um ein Teleskop zu kaufen. Mit dem Teleskop wollten sie im Schweif des Kometen ein Raumschiff beobachten, von dem sie glaubten, es sei gekommen, um ihre Seelen von ihrem irdischen Dasein zu erlösen und auf eine höhere Entwicklungsstufe zu bringen. Auf der Erde blieb ihnen das verwehrt, da böse Aliens konspirierten, um die Entwicklung der Menschheit aufzuhalten. Der Verkäufer staunte nicht schlecht, als die Kunden wenige Tage später wiederkamen und ihr Geld zurückverlangten, mit der Begründung, das Gerät sei kaputt. Den Kometen hätten sie zwar sehen können, nicht aber das Schiff in seinem Schweif. Folglich müsse das Fernrohr defekt sein.

Das vermeintlich defekte Teleskop der Verschwörungsgläubigen im Jahr 2020 sind die sogenannten Mainstreammedien. Seit der Gründung von Pegida 2014 ist es wieder in Mode gekommen, für diese Medien das Mem „Lügenpresse“ zu verwenden. Wie viele zweifelhafte „Innovationen“ ist auch die „Lügenpresse“ ein Kind des Krieges. Ersonnen im Ersten Weltkrieg, wurde der Begriff von den Nazis massentauglich gemacht, um Hass gegen jüdische Mitmenschen und Andersdenkende zu schüren. Die Konsequenzen sind bekannt.

Man muss sich die Begriffshistorie immer wieder vor Augen halten, um die als „Medienkritik“ getarnte Schmähung einordnen zu können. Schon während des Erstarkens von Pegida war die erste, verständliche Reaktion eine introspektive: Ausgewogene, transparente und selbstreflexive Berichterstattung, die Fehler offenlegt, so sie passiert sind. Vermutlich wird ein solcher Journalismus langfristig das seit Jahrzehnten erodierende Vertrauen in die Medien stabilisieren oder steigern. Doch kurzfristig ist sogar Wasser auf die Mühlen derjenigen, die ihren kruden Verschwörungsglauben popularisieren und zu Geld machen wollen. Denn die Proponenten der „Lügenpresse“ deuten Selbstkritik meist als Schwäche und instrumentalisieren sie, um die Spirale der Empörung weiterzudrehen. Digitale Plattformen belohnen diese in Clicks übersetzte öffentliche Aufmerksamkeit oft noch, indem sie Werbeeinnahmen mit den Kanalbetreibern teilen oder Crowdfunding ermöglichen.

„Lügenpresse“ ist ein Kampfbegriff und sollte als solcher verstanden werden. Die Behauptung, man wolle „Medienkritik“ betreiben, ist lediglich eine strategische Camouflage, deren Funktion darin besteht, Zweifel zu säen. In der modernen Informationsgesellschaft fällt dieser Zweifel leicht auf fruchtbaren Boden. Denn scheinbare „Belege“ für die Richtigkeit eines Verschwörungsglaubens lassen sich im Internet schnell finden und in sozialen Medien ebenso schnell verbreiten. Allein die Theorien rund um Corona sind bereits jetzt erschreckend verbreitet, wie eine jüngste Repräsentativstudie von Marketagent in Österreich zeigt: elf Prozent der Befragten glauben, dass Bill Gates mit Mikrochips in Impfstoffen Menschen kontrollieren will. 13,6% vermuten, ein Impfstoff ist bereits entwickelt, wird aber zurückgehalten und 14% sind der Überzeugung, dass Geheimgesellschaften die Krise nutzen, um die Errichtung einer autoritären Weltordnung voranzutreiben. Und die „Mainstreammedien“ würden all dies verbergen helfen und decken.

„Lügenpresse“ als Hilfshypothese von Verschwörungstheoretikern bedroht die freie Gesellschaft und muss strategisch bekämpft werden. Die Anhänger von Heaven’s Gate, die von Dritten immer als freundlich im Auftritt beschrieben wurden, haben mit ihrem Glauben letztlich vor allem sich selbst geschadet. Bei den Coronaleugnern ist dies anders. In der aktuellen Pandemie geht es nicht mehr nur um diejenigen, die sich in massenmedialen Diskursen nicht mehr repräsentiert sehen, sich von Abstieg bedroht fühlen und daher Zuflucht im Verschwörungsglauben suchen. Es geht um die Gesundheit aller und darum, in unsicheren Zeiten wertvolles Vertrauen in Medien zu erhalten. Die Kommunikationswissenschaft kann nichts zur Erforschung eines Impfstoffes beitragen. Aber sie kann die Fakten liefern, um die Öffentlichkeit gegen die nicht minder gefährliche Infodemie zu inokulieren.