Die Etablierung computergestützter ­Methoden in der Kommunikations­wissenschaft

 

 

 

   Marko Bachl, Universität Hohenheim

 

 

 

   Emese Domahidi, Technische Universität Ilmenau

 

 

 

   Ulrike Klinger, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Die stark gewachsene Bedeutung von Computational Communication Science (CCS) hat die Forschung zu modernen Medien- und Kommunikationsumwelten wesentlich erweitert. Statt nur Selbstauskünfte zur Mediennutzung zu untersuchen, können wir digitales Kommunikations­handeln direkt beobachten. Statt Ausschnitte von Leitmedien mit manuellen Inhaltsanalysen zu untersuchen, können wir große Teile der gesamten Berichterstattung berücksichtigen. CCS ist jedoch kein „Selbstläufer“, sondern muss sich vielfältigen Herausforderungen stellen, um relevante ­Forschungsfragen mittels computer­gestützter Methoden zu beantworten und sich als relevanter Akteur etablieren zu können.

Im Bereich der Datenerhebung ist die vielleicht weitreichendste Beobachtung, dass viele Daten schon da sind, wir (die Kommunikationswissenschaftler*innen) sie aber (zumindest in einer hinreichenden Qualität) nicht haben. Der Zugang zu digitalen Verhaltens- und Kommunikations­spuren der großen Plattformen ist dabei nicht nur ein methodisches Problem, sondern vor allem ein politisches. Als Fach sollten wir Aushandlungsprozesse über Datenzugang mitgestalten und in Dialog mit der Politik, aber auch den Plattformen selbst treten. Zudem haben Individuen Zugriff auf ihre eigenen digitalen Verhaltensdaten, die wir in innovativen, partizipativen Designs (z. B. Datenspenden) verarbeiten können.

Digitale Datensätze sind häufig groß, multimodal und haben komplexe Abhängigkeitsstrukturen, z. B. zeitliche Dynamiken, Hierarchien oder Netzwerkbeziehungen. Gleichzeitig sind sie in Hinsicht des Forschungsinteresses häufig informationsarm, da sie ursprünglich nicht für die akademische Forschung aufgezeichnet wurden. Ihre Verarbeitung und Analyse stellen uns vor Herausforderungen, denen wir zunehmend im Verbund mit Kolleg*innen mit unterschiedlicher Methodenexpertise und oft nur mit Hilfe von Techniken und Innovationen anderer Fächer wie der Informatik, Statistik oder Computerlinguistik begegnen können.

Der Ausbau eigener Kompetenzen im Fach im Bereich der Methodenforschung und in der Aus- und Weiterbildung ist entscheidend. In der Methodenforschung müssen wir Innovationen aus anderen Fächern aus dezidiert kommunikationswissenschaftlicher Perspektive evaluieren und eigene Beiträge zur Weiterentwicklung ­leisten. In der Aus- und Weiterbildung müssen wir klären, für wen welche Kompetenzen in ­welcher Tiefe notwendig sind. Fachübergreifende Studien­gänge, wie etwa die Medieninformatik von FU Berlin und TU Berlin, könnten gefragter werden, weil sie eine grundständige Ausbildung und Methodenkompetenz fördern, wie sie mit einzelnen Seminaren oder Summer Schools nicht zu erreichen sind.

Schlussendlich geht es bei CCS aber nur vordergründig um Methodenfragen. Unser Fach wird sich durch die neuen Möglichkeiten und Herausforderungen viel grundlegender verändern. Zum einen ist CCS eine Einladung, interdisziplinärer zu forschen, wodurch Fachgrenzen ver­schwimmen könnten. Schon jetzt gibt es hervorragende Beiträge zu digitalen Kommunikationsprozessen auch aus Arbeitsgruppen der theoretischen ­Physik (z. B. Lorenz-Spreen et al., 2019). Während ­manche Arten von automatisierten Inhalts­analysen in der Kommunikationswissenschaft noch als innovativ gelten, sind die Computer­linguistik und die Informatik weit voraus – allerdings mit ganz anderen Fragestellungen und Erkenntnis­interessen. Interdisziplinäre ­Forschung in der CCS kann keineswegs bedeuten, dass z. B. die Informatik als Entwicklerin von Tools „dient“, vielmehr liegt das innovative Potential darin, gemeinsam den Horizont der Forschungsfragen und Hypothesen – und damit auch der Theorie – neu zu denken und zu erweitern.

Zum Zweiten wird CCS auch zu einer Profilschärfung der Kommunikationswissenschaft führen, weil in interdisziplinären Verbundprojekten der eigene fachliche Beitrag und Mehrwert klar gerechtfertigt werden muss. Was können wir, was theoretische Physik oder Verhaltensforschung nicht können? Weiterhin ist zu erwarten, dass mehr Forschung in interdisziplinären Verbünden verstärkt Fragen von Infrastruktur und Forschungsethik hervorbringt. Die lehrstuhlübergreifende Sicherung von Daten, der Aufbau von Datenarchiven und deren Management sind hier zukunftsweisende Strategien. Im Sinne von Open Science geht es darum, nicht nur handverlesene, sondern möglichst viele Forscher*innen am „Datenschatz“ teilhaben zu lassen. Ebenso ist zu hoffen, das forschungsethische Fragen zur Arbeit mit Verhaltensdaten, Datenschutz und Datensparsamkeit größeren Raum im Fach bekommen.

Literatur
Lorenz-Spreen, P., Mønsted, B. M., Hövel, P., & Lehmann, S. (2019). Accelerating dynamics of collective attention. Nature Communications, 10(1), 1-9.